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Man steigt zwanzigmal in denselben Fluss – die ewige Widerkehr des immergleichen Fachkräftemangels

Über den Fachkräftemangel wird debattiert, seit ich denken kann. Gelöst wurde das Problem offenbar noch nicht, denn auch jetzt wieder beherrscht es die Branchen-News. Obwohl es wichtigeres gibt. Wenn es tatsächlich einen Mangel an Fachkräften gibt, muss man sich ein paar Gedanken machen. Und Unternehmen müssen sich eingestehen, dass Personalarbeit heute nicht mehr so funktionieren wird, wie in der letzten Generation.

“Jürgen Rüttgers warf der Industrie vor, nicht genug für die Ausbildung von Informationstechnikern getan zu haben.”

Dieser Satz steht in einem Spiegel-Artikel aus dem März 2000, der sich mit dem “Kinder statt Inder”-Diktum des damaligen NRW-Ministerpräsidenten-Kandidaten beschäftigt und der Debatte um die Einführung einer Greencard, die den Zuzug ausländischer IT-Fachkräfte erleichtern sollte. In der alltagsrassistischen Kartoffel-Wahrnehmung sind jene natürlich vor allem in Indien zu finden. Unter Turbanen.

Damals war ich grad 13, würde mir bald vom gesparten Taschengeld meinen ersten eigenen PC gekauft haben und plante, Hacker zu werden, falls es mit der Rock-Band-Karriere nix werden sollte. Eine sichere Bank! Die gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Fachkräftemangel hatte ja bereits zu einer Ingenieurs-Schwemme geführt – und zu einer Arbeitslosenquote von gut 16% unter Maschinenbauingenieur:innen. Ausgerechnet. Von einem “Schweine-Zyklus” sprach damals das Handelsblatt.

Zehn Jahre später – 2010! – bin ich zwar weder Rockstar noch Hacker, sondern Student der Philosophie (eine ganz sichere Bank!), aber andere Dinge im Leben sind konstanter: So meldet der VDI 36.000 offene Stellen für Ingenieure, der Branchenverband der Digitalwirtschaft Bitkom gibt 43.000 unbesetzte IT-Stellen an und das Institut der Deutschen Wirtschaft schätzt, dass “im Jahr 2014 bereits 200.000 Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker fehlen.” Ferner fehlen überdies Pflegekräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher.

Ein Sprung nach vorn oder ein Sprung in der Platte

Und heute? Heute malen die Dachverbände der Wirtschaft allesamt tiefschwarz – zumindest, was den Fachkräftemangel anbetrifft. 

GWA: In den nur 85 Mitglieds-Agenturen, die sich an der jüngsten Umfrage des Dachverbands der (“führenden”, Kommunikation ist alles!) Kommunikationsagenturen beteiligt hatten, geben diese an, dass für 2022 allein ca. 2000 Stellen zu besetzen seien. Am größten sei der Mangel in den Bereichen Beratung, Tech, Digitale Kommunikation, Projektmanagement und Konzeption. Verbandssprecherin Larissa Pohl lässt sich mit einer noch deutlich alarmistischeren Prognose zitieren; so sei hochgerechnet “davon auszugehen, dass es der Agenturszene insgesamt auf tausende, wenn nicht gar mehr als zehntausende Mitarbeitende fehlen”. [sic!] Als Lösung wird eine “Offensive […] mit kurz-, mittel- und langfristig wirkenden Aktivitäten” angestrebt.

Städtetag: Laut dem kommunalen Verband der Städte (mit und ohne Kreis) fehlen absehbar in den nächsten Jahren etwa 230.000 Erzieher:innen und außerdem etwa 300.000 Pfleger:innen. Diesen eklatanten Mangel will man mit verstärktem Lobbyieren in Richtung einer Senkung der Zuzugshürden begegnen. Die Anerkennung ausländischer Zeugnisse und Abschlüsse solle beispielsweise vereinfacht werden, der Zuzug ausländischer Fachkräfte so niedrigschwelliger und ergo attraktiver gestaltet werden.

KOFA: Die Etablierung des KOFA – ein vom BMWK beauftragte und vom Institut der deutschen Wirtschaft ins Leben gerufenes Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung – lässt zwar erahnen, dass es ein gewisses Bewusstsein für den massiven Handlungsbedarf auch auf der Ebene des deutschen Mittelstands gibt. Nichtsdestotrotz muss auch dieses Kompetenzzentrum erstmal über 65.000 fehlende Fachkräfte diagnostizieren – zahlenmäßig mangele es vor allem an Gesell:innen, aber Meister:innen seien besonders schwer aufzutreiben. Abseits des Handwerklichen wird’s richtig schlimm: “Schätzungen gehen von 800.000 unbesetzten Stellen im öffentlichen Sektor bis 2030 aus.” 

Einige grobe Ideen gibt es immerhin auch hier, sie reichen vom fördern einer “vorausschauenden Personalplanung” in KMU über eine Imagekampagne des ZDH bis hin zu gezielte(re)n Rekrutierung beispielsweise von Studienabbrecher:innen, Geflüchteten, pensionierten – also einer Ausweitung der Zielgruppe, wenn man so will.

Mehr Tipps, Kommentare, Rants, zusammenhängend oder zusammenhanglos, meistens aber zünftig, weil über unsere Zünfte: PR- und Marketing aus dem Kibibit-Nest in Dein Mailpostfach:

Eine Medaille mit zwei Seiten?

Ein gemeinsames Paper von KfW und BMWK von Anfang 2021 bringt – hier mit Fokus auf die öffentliche Verwaltung – dazu ganz gut auf den Punkt (und zwar gleich in der Einleitung – man wird nicht einmal genötigt, ins ganz kleingedruckte zu scrollen. Es muss wirklich schlimm sein!), worin oftmals das Problem gesehen wird:

“Die Corona-Krise hat erneut den Wert einer funktionierenden Verwaltung verdeutlicht. [Sie] wird jedoch … durch den Fachkräftemangel immer schwieriger zu gewährleisten sein. Die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen ist eine Möglichkeit, die Qualität der öffentlichen Verwaltung auch mit weniger Personal sicherzustellen. Gleichzeitig bringt sie höhere Anforderungen an das (kommunale) Personal mit sich.”

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Österreich, das in der digitalen Verwaltung deutlich weiter ist: Jeder siebte Arbeitsplatz wurde durch den Einsatz digitaler Technik und die Einführung schlankerer Prozesse abgebaut – seit 1999. 

Gleichzeitig war ebenfalls ein stetiger Anstieg der Akademikerquote zu beobachten. Gerechtfertigt wird das wiederum nur zu oft mit der gestiegenen Komplexität. Das ist nun doch wirklich interessant – man liest und hört allenthalben von der wachsenden Komplexität der Dinge. Indes: Da muss doch was faul dran sein.

Wie passt es zusammen, dass die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände so händeringend nach Fachkräften suchen und das statistische Bundesamt zugleich eine so genannte “Stille Reserve” von gut zwei Millionen(!) Arbeitssuchenden bzw. Erwerbslosen (nicht alle Erwerbslosen wollen, können oder müssen das ändern) ausweisen kann? Wie ist diese Schieflage eigentlich zu fassen?

Eine Schieflage, mehrere Thesen
Oder: Eine Medaille, die eine seltsame Form hat.

Für die meisten Tätigkeiten brauchen wir keine Akademiker:innen

Der Anteil der akademisch ausgebildeten an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung steigt seit Jahrzehnten stetig (Wiki, Statista). Dass sich der Bedarf an akademisch ausgebildeten (Statista) parallel dazu ebenfalls steigt, impliziert also keinesfalls zwingend einen kausalen Zusammenhang, sondern ist eher als epiphänomenale Dynamik zu betrachten. Cum hoc non est propter hoc.

Anders ausgedrückt: Ok, es gibt mehr akademisch ausgebildete. Daraus allein lässt sich aber nicht schließen, dass die Tätigkeiten komplexer geworden sind und man deshalb mehr akademisch ausgebildete Menschen zu ihrer Bewältigung brauche. 

Als Bildungsinflation wird diese Entwicklung schon seit Jahren unter einem passenden Schlagwort gehandelt. Wovon es zu viel gibt, das sinkt im Wert. So geht es nicht nur Wertpapieren, sondern auch Uni-Zeugnissen. Und so geht es nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Nachbarschaft.

Die Statistiken belegen, dass die vielen vielen Einzelschicksale und Anekdoten in unseren Umfeldern nicht weit hergeholt sind. Wir alle kennen schließlich Germanisten, Philosophen, Historikerinnen, Soziologinnen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwertun. Ich selbst habe Philosophie studiert, weil ich – mit Anfang zwanzig – überhaupt keinen Zweifel daran hatte, dass das ein wichtiges Fach sei man keinerlei Schwierigkeiten haben würde, eine MENGE KOHLE zu verdienen. Ups.

Abschlüsse, Wert und Vergleichbarkeit

Der Wert, der Abschlüssen zuerkannt wird, ist sehr oft gekoppelt an die Umstände ihres Zustandekommens. Diese wiederum sind durch die soziokulturelle und demographische Entwicklung vorgegeben, also: Wie so eine (Aus-)Bildungskarriere halt typischerweise aussieht, von der Einschulung bis zur Immatrikulation etwa. 

Es sind nicht nur die Umstände, unter denen sie zustande kommen, es ist auch die jeweilige Wahrnehmung derselben, die für gegenseitige Enttäuschungen sorgt.

Sprich: Kommen die Abschlüsse zu einfach zustande, sind sie weniger Wert, als Abschlüsse, die unter besonders hohem Einsatz erworben werden. Anders ausgedrückt: Je weniger hoch der (wahrgenommene) Einsatz, der für den Erwerb eines Abschlusses aufgewendet wurde, desto weniger ist der wahrgenommene Wert des Abschlusses. Unnötig kompliziert? Vielleicht. Aber die Wertigkeiten eines – beispielsweise – akademischen Studiums vor dem Berufseintritt und eines Aufbaustudiums oder einer Weiterbildung, das von jemandem im fortgeschrittenen Alter, neben dem Beruf vielleicht und nach Gründung einer Familie, sind schwer vergleichbar. Ihre wahrgenommenen Wertigkeiten (wahrgenommen von den Leuten in den Personal-Abteilungen) aber schon eher. 

Denke ich an meinen Berufseinstieg (im eCommerce) zurück und erinnere ich mich an meine Kolleg:innen, fällt mir vor allem auf, wie wahnsinnig jung wir alle waren. Mit meinen damals etwa 26 Jahren gehörte ich im Unternehmen zum alten Eisen! 

Und das ist mittlerweile nicht so ungewöhnlich: Wer mit 6 eingeschult wird, es vielleicht schafft, die 11. Klasse zu überspringen, keinen Wehr- oder Zivildienst leisten muss, ist beim Abitur 17 und kann mit 21 oder 22 seinen Bachelor-Abschluss absolviert haben, hält dann also einen “Berufsqualifizierenden Abschluss”. Und auch 24-jährige Master-Absolventen sind keine Seltenheit.

Akademische Fachabschlüsse bescheinigen keine Berufsqualifikation

Sondern: Fachkenntnisse. Nicht mehr. Nicht weniger. Naja.  Meistens weniger.

Also, was bedeutet das eigentlich: Qualifiziert für den Beruf? Spielen wir mal über Bande:

Wer nach der Haupt- oder Realschule eine Berufsausbildung macht, ist bei der Beendigung ebenfalls gerade um die 20 Jahre jung. Hat aber mehrere Jahre in einem oder mehreren Teams gearbeitet, hat mit Kund:innen zu tun gehabt und von einem Meister/ einer Meisterin den Ethos der jeweiligen Zunft und allerhand interdisziplinäre Fähig- und Fertigkeiten gelernt. Kaum eine Berufsausbildung beschränkt sich schließlich auf die reine Vermittlung der Kernfertigkeit. Fliesenleger:innen müssen sich mit Buchhaltung, mit Rechnungslegung (und der entsprechenden Judikative) auskennen, sie sollten materialkundig sein, die Bedarfe, Bedürfnisse und Wünsche von Kund:innen und Auftraggeberinnen verstehen gelernt haben, Angebote schreiben können und so weiter. Wer entsprechend dem akademischen “Master” den Meisterbrief macht, muss sich mit Unternehmens- und Personalführung auseinandersetzen, muss also verstehen, wie ein Unternehmen liquide zu halten ist, was ein Personalentwicklungsplan und dergleichen mehr ist. 

Ein universitäres Master-Studium bereitet keinesfalls auf all das vor, sondern beschränkt sich auf die Vermittlung fachlicher Inhalte. Ehrlich gesagt: Oft auch nicht einmal das. Die wenigsten Master-Studis, die ich kennenlernen durfte, machten den Eindruck hoch gebildeter, belesener oder umfassend interessierter Akademiker. So waren sie weder für einen handfesten Beruf noch für … irgendwas … qualifiziert. Befeuert durch einen gewissen Abschluss-Druck (und den Druck, den das Bafög-Amt außerdem ausübt) haben die wenigsten meiner Kommiliton:innen sich tiefer als nötig in ihr Studium reingekniet. Es wurde – zumindest habe ich es so wahrgenommen – meist nur das geleistet, was eben notwendig war, um einen bestimmten Notenschnitt zu erreichen und zwar in der dafür vorgesehenen Zeit. Doch das ist nochmal ein anderes Thema.

Doch auch in den weniger handfesten Berufen benötigt es deutlich mehr als einen formal qualifizierenden Hochschulabschluss: Wer im Vertrieb erfolgreich sein will, muss viel mehr können, als die (zugegeben fast immer sehr basale) Rechenlogik für Margen, Provisionen etc. zu durchschauen, man muss den Markt und seine Spieler verstehen, zwischen ihren professionellen und persönlichen Bedarfen differenzieren können, rhetorisches und Präsentier-Talent haben und so weiter. Wer in Marketing machen will, sollte technologisches Verständnis und Kenntnisse von Psychologie haben, sollte die Fähigkeit haben, Themen zielgruppengerecht aufzuarbeiten und dafür vielleicht auch Kenntnisse von Medienbearbeitung haben. Wer “was mit Medien” machen will, sollte sich mit der Geschichte der Medien, mit Medienwirkung, mit Genres, Sparten, mit Soziologie auskennen. 

Und auch dann sind diese Fach-Studienabschlüsse nicht wirklich berufsqualifiziernd – sie qualifizieren höchstens zum Einstieg in einen Beruf. Das ganze wichtige Zeug (der Umgang mit den anderen Menschen, das Arbeiten im Team, Abläufe, Zwänge und Politiken in Unternehmen und zwischen Unternehmen, …) wird schließlich erst dort gelernt.

Sprich: 

  • Man kann von 24-jährigen Master-Absolventen keine echte Qualifikation erwarten. Woher bitte sollen sie sie auch nehmen? Also sollte man das auch nicht tun.
  • Der Umkehrschluss ist nicht zulässig: Nur weil jemand erst mit 37 den Master abgeschlossen hat, ist derjenige nicht automatisch superklug.
  • Fachabschlüsse sind kein Beleg für die tatsächlich, de facto, realiter und wirklich benötigte Qualifikation, höchstens ein Anhaltspunkt für die Interessen und Talente der Bewerber.
  • Der Terminus “Berufsqualifizierender Abschluss” ist eventuell irreführend. Vielleicht sollte man ihn im Zusammenhang mit Uni-Zeugnissen nicht allzu ernst nehmen.

Unter dem Schlagwort der “Überakademisierung” wurde diese Entwicklung übrigens bereits im Nachkriegsdeutschland, verstärkt aber in den 2010er-Jahren diskutiert. Und zwar nicht nur verstärkt verstärkt, sondern auch verstärkt verquer, mit ausgerechnet einem Philologen-Verband, der einen “fehlenden Praxisbezug”(!) in den akademischen Curricula anprangerte. Okay, um fair zu bleiben: Die Philolog:innen springen hier für Lehrlinge und Berufsschülerinnen in die Bresche, denen eine unvorteilhafte Akademisierung ihrer eigentlich nicht so recht akademischen Berufsfelder den eigentlich notwendigen Praxisbezug nimmt. Fair enough. Dass das ausgerechnet vom DPhV kommt, hat immerhin schon ein bisschen was von Reitern und Posaunen. Töröö, Akademokalypse now!

Der Wert generalistischer Abschlüsse wird verkannt

Die Medaille hat noch eine andere Seite. Insgesamt hat diese Medaille eine ziemlich vertrackte Form. 

Wer Spezialprobleme hat, so scheint es, neigt dazu, Menschen mit Spezialkompetenzen zu suchen. Das ist an sich nicht so überraschend. Schließlich rufen wir ein Fliesenlege-Unternehmen, wenn eine Fläche gefliest werden soll und ein Übersetzungsbüro, wenn wir einen Text übersetzt haben wollen.

Vielen der Herausforderungen in den Kommunikations- und Marketingabteilungen sind aber nicht mit tiefem Spezialwissen zu begegnen; stattdessen handelt es sich oftmals um interdisziplinäre, themenübergreifende Fragestellungen, die zudem meist auch noch mehrere Abteilungen betreffen. Nischen-Expertise ist manchmal auch gefragt – doch die kauft man für gewöhnlich extern hinzu.

Die Herausforderungen in Marketing, Change Management, Digitaler Kommunikation usw. sind manchmal komplex. Das beste Handwerkszeug, um ihnen zu begegnen, ist daher eine gewisse Übung und Aufgeschlossenheit gegenüber Komplexität und Interdisziplinarität. Menschen, die sich bereits im Studium mit Meteorologie, Antike Kulturen, Philosophie, Linguistik, Sozialwissenschaften oder ähnlichem beschäftigt haben, sind für solche mehrdimensionalen Themen meist recht gut gerüstet. 

Meint übrigens auch Prof. Dieter Birnbacher, von Spiegel Online 2006 über die vermeintliche Weltfremdheit der Philosophiestudent:innen gefragt: Der Philo-Studi “hat seine Füße in der Realität, denn er hat sämtliche Gegenwartsfragen von der Medizin- oder Medienethik bis zur Politik behandelt”.

Oder, wie Yuval Noah Harari es im Interview mit Wired (komplettes Transcript hier) ausdrückt: “With all the talk about the job market and what should they study today that will be relevant to the job market in 20-30 years, I think philosophy is one of the best bets maybe.”

Botschaften, die ankommen

Das durchschnittliche menschliche Gehirn muss pro Tag 34 Gigabyte Informationen verarbeiten. Demgegenüber steht unsere sinkende Aufmerksamkeitsspanne: Die meisten Menschen schaffen es heute lediglich 8 Sekunden sich auf einen Sachverhalt zu konzentrieren. Wie also platziert man Botschaften so, dass sie nicht auch noch im Hintergrundrauschen versinken?

Integrierte Studiengänge: Die Kunst, an mehreren Oberflächen gleichzeitig zu kratzen?

In den Universitäten hat man die Entwicklung auch gesehen. Man reagiert mit einem immer größeren Angebot an integrierten Studiengängen. So beispielsweise der Studiengang PPE – Philosophy, Politics and Economics an der HHU oder Literaturwissenschaft: Ästhetik – Literatur – Philosophie an der Viadrina-Uni in Frankfurt an der Oder. Man versucht einen möglichst breiten Querschnitt durch verwandte oder angrenzende Fachgebiete zu vermitteln. Die Motivation ist so verständlich wie naheliegend. Nichtsdestotrotz klingt es ein bisschen wie: Von allem ein bisschen – und nix richtig.

Inflation der Abschlüsse => Inflation der Gehälter

Hier isser ja doch, der Markt, der’s schon regelt. Der taucht irgendwie immer nur dann auf, wenn’s uncool wird. Schade. Aber am Ende isses so: Wo ein riesen Haufen Uniabsolventen die Arbeitsmärkte flutet, sinkt der Preis für ihre Arbeit. Und Weiterbildungsangebote werden gesucht und wahrgenommen und Zusatzausbildungen gemacht und Fortbildungen und Zertifikate und von lebenslangem Lernen gesprochen.

Digitalisierung (Automatisierung, User Experience, etc.) sollte eigentlich zu Vereinfachung von Arbeit führen, nicht zu höherer Komplexität

Natürlich liegt das KOFA ft. KfW Paper nicht ganz falsch mit der Diagnose, die Digitalisierung sei “Chance und Herausforderung zugleich”. So ähnlich hören und lesen wir das ja auch allenthalben (zum Beispiel bei Beratungshäusern, SoftwareUnternehmen, in Branchen-Publikationen bei Think Tanks oder im Ärzteblatt, …).

Seltsamerweise nimmt diese Sichtweise von Chance und Herausforderung eine Ambivalenz geradezu wie gegeben hin, die dem Versprechen der Digitalisierung eigentlich krass zuwider läuft.

Traten die Digital Evangelists (Eine Kohortenbezeichnung, die klingt wie ne New Romantics Band, die zwischen Kraftwerk und Duran Duran nicht den ganz so großen Ruhm, aber immerhin das ganz große Ego eingefahren hat; das kann eigentlich kein Zufall sein.) nicht eigentlich mit dem Versprechen an, die Digitalisierung mache Arbeit einfacher, mache Prozesse effizienter? Ist das nicht eigentlich das Ideal, das wir anstreben, wenn wir in Behörden, Unternehmen oder auch im Privatleben Prozesse und “Daily Doings” digitalisieren? Dass die Dinge einfacher werden, weniger Zeit beanspruchen und so weiter?

Ist es nicht das Versprechen der Softwarehersteller von Office-Paketen über Betriebssysteme bis hin zu Enterprise-Lösungen, dass schwierige Aufgaben einfach zu lösen werden?

Das Versprechen ist längst gebrochen. Die Digitale Transformation ist offensichtlich mehr gesellschaftlicher Megatrend denn punktuelle Verbesserung. Ihre Dynamik treibt den Wandel und bedingt ihn zugleich. Nichtsdestotrotz bedeutet das auch: Für die meisten Tätigkeiten mit digitalen Tools und digital unterstützten Prozessen werden keinerlei technische Super-Skills benötigt, muss eigentlich kein tiefes “Digital-KnowHow” vorausgesetzt werden und werden keine “Coding Skills” gebraucht.

Was also verbirgt sich eigentlich hinter den vielzitierten “IT Skills”? Ach, meist eigentlich nichts weiter als sowas:

Wir brauchen weniger Spezialist:innen. Wir brauchen Menschen, die vernetzt denken

Wie und wo aber lernt man das? Nun, zumindest schonmal nicht in der Schule. Die Curricula der verschiedenen Fächer sind gewiss nicht verkehrt – existieren aber scheinbar, wie auch schon zu meiner Schulzeit – irgendwie nebeneinander her. Wenn nicht aneinander vorbei. “Kompetenzerwartungen”, so heißt es in den entsprechenden Amtsblättern aus dem Nordrhein-Westfälischen Bildungsministerium, “beschreiben Ergebnisse eines kumulativen, systematisch vernetzten Lernens”.

Wie geht das zusammen mit einem Kernlehrplan für das Fach Kunst, das komplett geschichtslos ist. In einem Nebensatz kommen die “historischen und soziokulturellen Bedingungen der Bildproduktion und Bildrezeption” vor, als sei es eine Nebensache. Wichtiger muss wohl das “persuasive Gestalten” sein, was zur Hölle auch immer das am Ende bedeuten soll. Wahrscheinlich: Malen. Andersherum scheint auch im Lehrplan für das Fach Geschichte verhältnismäßig wenig Raum für die Zeitdokumente zu sein, anhand derer wir unsere Historie erleben und anhand derer Menschen mit ihren soziokulturellen Bedingungen und so fort die von ihnen erlebte Zeitgeschichte dokumentieren. Im Fach Musik wiederum geht es zwar um das “Musizieren und Gestalten von Musik” (vulgo: singen) und auch um die “Fähigkeiten, Musik ausgehend von subjektiven Höreindrücken zu analysieren und zu interpretieren”. Immerhin kommt der “historisch-kulturelle Kontext” hier nicht zu kurz. Aber wie funktioniert Musik eigentlich? Was ist Schall? Was ist Schwingung? Die Physik von Pfeifen, Saiten und Tönen und die Mathematik ihrer Verhältnisse zueinander – die Harmonie – scheint nicht relevant zu sein. Schauen wir im Fach Physik nach. Immerhin: Hier ist Schall ein Thema. Am Ende des Themenblocks sollen Schülerinnen und Schüler nicht nur  “Lärmbelastungen bewerten und daraus begründete Konsequenzen ziehen”, sondern tatsächlich auch “an ausgewählten Musikinstrumenten (Saiteninstrumente, Blasinstrumente) Möglichkeiten der Veränderung von Tonhöhe und Lautstärke zeigen und erläutern” können.

Okay.

Meine eigene Schulzeit – und auch die, die ich durch die Anekdoten anderer kennenlernte – sah irgendwie anders aus: Im Musik-Unterricht wurde größtenteils gesungen. In den Physik-Stunden wurden basale Experimente mit schiefen Ebenen gemacht. Im Deutsch-Unterricht wurden die mageren Lektüren (Goethes Werther, Lessings Emilia Galotti oder Brechts Mutter Courage) durchgekaut und in Geschichte die französische Revolution (mehrfach). In Erdkunde ging es um Wüstenbildung und die Sahel-Zone. Und das alles gleichzeitig. Nix hat Bezug zueinander gehabt. Die Themen liefen mit einer erstaunlichen Beliebigkeit nebeneinander her und vertaten so ihre Potenziale, auch für die uninteressierten interessant werden zu können. Hätte man nicht in Geographie statt über die Sahel-Zone der 1990er-Jahre über die kleine Eiszeit des 16. Jahrhunderts sprechen können, während man im Geschichtsunterricht den 30-jährigen Krieg, im Deutsch-Unterricht von mir aus Mutter Courage und in den Kunststunden über Peter Paul Rubens’ Leben (als (Hof-Maler) und Diplomat) im 30-jährigen Religionskrieg und sein Werk dazwischen behandelt? Das wäre zumindest mal ein Ansatz, wie man vernetztes Denken fördern könnte. Das Bewusstsein dafür, dass alles mögliche irgendwie miteinander zusammenhängt, ist der Startpunkt dafür.

Stattdessen: Unzusammenhängendes, nicht-vernetztes Denken überall.

Nicht nur die unvernetzten Schul-Curricula, sondern auch eine Art tradierter Spezialisierungs-Fetisch scheint uns einiger Maßen im Griff zu haben.

In “Range” macht der Autor David Epstein dieser Idee Luft: “Viele Experten sind der Meinung, dass jeder, der eine Fähigkeit entwickeln, ein Instrument spielen oder auf seinem Gebiet führend sein will, früh anfangen, sich intensiv damit befassen und so viele Stunden wie möglich bewusst und konzentriert üben sollte. Wer Sie nur stümpere oder gar zögere, werden nie zu denjenigen aufschließen, die bereits einen Vorsprung herausgearbeitet haben. Ein genauerer Blick auf die Forschung zu den weltweit besten Leistungen, von Profisportlern bis hin zu Nobelpreisträgern, zeigt jedoch, dass eine frühe Spezialisierung die Ausnahme ist, nicht die Regel.”

Epstein macht deutlich (der Klappentext spricht von seine “Entdeckung”, ich kann mir aber ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass das noch niemand vor ihm “entdeckt” hat), dass in den meisten Bereichen – vor allem in den komplexen und unvorhersehbaren – Generalisten viel mehr als Spezialisten die besten Voraussetzungen haben, sich auszuzeichnen. Generalisten finden ihren Weg oft erst spät, und sie verfolgen viele Interessen, anstatt sich auf ein einziges Thema zu konzentrieren. Sie sind außerdem kreativer und beweglicher und können Verbindungen herstellen, die ihre spezialisierten Kollegen nicht sehen.

Lösungswege

Okay, zugegeben: So ‘ne richtig konkrete Lösung kann ich nicht anbieten. Ich hab keine. Zumindest nicht für das ganze Problem-Chaos. Aber ein paar Wege gibt es. Einen mittel- bis langfristigen, den wir nicht mehr erleben werden. Und einen kurz- bis mittelfristigen, den wir in unseren Unternehmen angehen müssen. 

Mittel- und Langfristig: Entscheidung zwischen Flucht und Untergang

Der wichtigste: Mittel- und langfristig muss man sich eingestehen, dass die (Aus-)Bildungswege nicht dabei zuträglich sind, junge Menschen vollumfänglich auf Berufe vorzubereiten. 

Zugleich legt dieses Eingeständnis aber eben nicht den Schluss nahe, dass die schulische und akademische Bildung praxisnäher gestaltet werden müssten. Das Gegenteil ist der Fall. Wo nämlich die Komplexität steigt, liegt es eben nicht nahe, einen stärkeren Fachbezug zu fördern. 

Was hierdurch nämlich passiert, sehen wir doch schon an allen Ecken und Enden: Eine hohe Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt, wahnsinnig viele arbeitssuchende Akademiker und Handwerkerinnen bei zugleich einer riesen Menge unbesetzter Stellen. Das bedeutet: Wir haben eine Menge formal qualifiziertes Personal, das aber trotzdem ungeeignet ist.

Meine eigene Erfahrung: Die gescheitesten Kolleg:innen, die ich in Marketing und Kommunikation erleben durfte, haben nicht Marketing oder Kommunikationswissenschaften* studiert, sondern sind auf irgendwelchen verworrenen Wegen im Beruf gelandet. Selbst gebiased, gebe ich zu, dass ich (auf Hiring Manager Seite) den Absolvent:innen von Fächern wie Philosophie, Kulturwissenschaften, Politik, Soziologie etc. eine vielfach höhere Problemlösungskompetenz zutraue, als ihren Kolleg:innen aus Fächern wie “Marketing” o.ä. Das liegt vor allem daran, dass in diesen Fächern traditionell die Bewunderung des Problems an erster Stelle steht. Statt vorgefertigte Heuristiken für Problemklassen anzubieten, die dann auswendig gelernt werden, müssen Studierende zunächst das Problem selbst erkennen, dann ggf. analysieren woher es kommt, um dann eine Methode zu finden – oder zu entwickeln – mit der es angegangen werden kann. 

Die Lösung für den Fachkräftemangel (und, nebenbei, für einen ganzen Batzen anderer Probleme!) ist vielmehr in einer stärkeren Generalisierung als in einer größeren Praxisnähe zu finden. Gepaart mit einem steigenden Anspruch an Bildung und Bildungsabschlüsse. Mit dieser Idee bin ich immerhin nicht ganz allein, siehe oben Yuval Noah Harari oder David Epstein oder Dieter Birnbacher. 

Nun ist es wohl leider ein relativ weiter Weg dorthin. Ich persönlich glaube nicht, dass ich da noch irgendwas substanzielles miterleben werde – es wäre immerhin tiefgreifende Reformen und Entwicklungen der gesamten Bildungslandschaft nötig, angefangen von einer Reformierung des Lehramtsstudiums über eine Überarbeitung der Schul-Curricula bis hin zu kleineren Klassen und der Rückkehr der Hauptschule als Regelschule bei gleichzeitiger Durchlässigkeit des Schulsystems und so weiter. Mal abgesehen von dem ewig-bescheuerten Bildungs(abschluss)neid, der ganze Grundschulfördervereine vergiftet.

Ich selber glaube, dass ehe all das eintritt, der Standort Europa erledigt und in Abwicklung begriffen sein wird. Im Großen wird sich abspielen, was im Kleinen schon längst deutlich abzeichnet: Wer es sich leisten kann, wird nicht aus seiner Tretmühle ausbrechen. Wer schon mit dem Rücken zur Wand steht, wird hingegen die Beine in die Hand nehmen und einen schnellen aber schmerzvollen Ausweg suchen. Oder halt untergehen.

Übrigens: Wie man darauf kommt, dass studierte Kommunikationswissenschaftler:innen besonders gut kommunizieren können, bleibt mir weiterhin ein Rätsel. Analog dazu müssten promovierte Biologen wahre Pornstar-Hero-Meister-Ficker sein oder zumindest besonders gut in Zellteilung, Computerlinguisten müssten die ganze Zeit Beep Boop Beep machen und Wirtschaftschemiker:innen dürften Koryphäen in Mergers und Acquisitions sein? 

Kurz- und Mittelfristig: Was Unternehmen machen können

Womit wir bei Lösungsgedanken, Teil II wären. Der mittelfristigen Option. Das ist die Option, die Unternehmen heute und in diesem Augenblick ziehen können – und müssen -, um ihrerseits irgendwie mit der Fachkräftesituation klarzukommen. Und die besteht in einem Neu- und Umdenken der HR-Funktion. Viele gehen schon mit guten Beispielen voran, doch das Problembewusstsein – bzw.: das Lösungsbewusstsein! – ist noch längst nicht in allen Personalabteilungen angekommen. Es geht darum, den Bewerbermarkt zu verstehen. Geht es darum, HR neu zu denken? Für die einen oder anderen – vielleicht. Was die Gemengelage klar machen dürfte: Personalabteilungen können es sich nicht leisten, weiterzumachen wie bisher. 

Unternehmen können es sich im Kampf um die (offenbar spärlich gesäten) Fachkräfte kaum leisten, in der Zielgruppe unsichtbar zu sein und nicht zur Zielgruppe passende Kanäle zu bespielen. Unternehmen können es sich nicht mehr leisten, die Candidate Journey bzw. die Recruiting-Prozesse zu verkacken. Auch Weltkonzerne nicht. Der Name zieht schon längst nicht mehr wie früher. Unternehmen können es sich nicht mehr leisten, intransparent im Recruiting zu sein, die Augen vor den Realitäten des Marktes zu verschließen, Lebensläufen allzu hohen Wert beizumessen, formalen Kriterien starr zu folgen oder Diversität als Trend-Topic abzutun. Kleiner Spoiler: Das wird recht viel Arbeit werden.

HR neu denken?

Oder einfach an die veränderten Gegebenheiten anpassen. Die Auras der großen Konzerne strahlen nicht mehr so hell in die jungen Zielgruppen hinein, die kommunalen Verwaltungen wundern sich über niedrige Bewerberzahlen und die Agenturszene fragt sich eh: Was da los, digga?

Dabei hat sich einfach einiges verändert. Menschen informieren sich über andere Kanäle als noch vor 20 Jahren (ja, auch über Stellenangebote). Menschen tauschen sich intensiver aus. Und haben andere Ansprüche. Man muss HR nicht neu denken. Sondern einfach vom Ergebnis her. Wie alles andere auch. Am Anfang aber steht das Ablegen einer lästigen Gewohnheit.

Fazit

Den niedrigen Anspruch allgemeiner Schul- und formaler akademischer Bildungn konnten wir uns in Europa so lange leisten, wie sich Wertschöpfung in den Logiken standardisierbarer Industrie- und Produktionsprozesse und ihren prädigitalen Skalierungsmaßen bewegte, in denen viele Tätigkeiten manueller Natur waren und/oder mit vielfachen Redundanzen einher gingen.

Wer konnte (also eine gewisse mentale und wirtschaftliche Solvenz vorweisen in der Lage war) hat schon längst dafür gesorgt, für jeglichen Wandel und einhergehende Eventualitäten gewappnet zu sein: Mit dem Erlernen von Sprachen, Auslandsaufenthalten, den entsprechenden Uni-Diplomen und Praktika. Doch die Wirtschaft braucht nicht nur die angepassten Überflieger, Uni- und Klassenstreber, die überdies typischerweise aus einer ganz bestimmten Einkommensschicht und somit aus einem ganz bestimmten sozialen Milieu kommen – so wird das nix mit der Diversität.

Man muss außerdem anerkennen, dass die meisten formal hoch qualifizierten Absolventen nicht gelernt haben, vernetzt zu denken. Sie haben sich einfach noch nie mit komplexen Problematiken und einer unübersichtlichen Interessen- und Stakeholdergruppe konfrontiert gesehen. Ein Blick auf die Curricula der einschlägigen Kaderschmieden verrät, dass es zum großen Teil um Fleiß und das Auswendiglernen von Heuristiken innerhalb der engen Grenzen eines eigentlich längst überholten Weltbildes geht.

Ergo:

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